Das türkisch-deutsche Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften für die Bundesrepublik Deutschland umfasst nur zwei Seiten. Seitdem könnten die Geschichten derjenigen, die ins Land gekommen sind, darin gearbeitet haben und großen Teils geblieben sind, unzählige Seiten füllen. Tun sie es? Kennst du einige davon? Zumindest im Geschichtsunterricht haben wir die Chance, ein Basisnarrativ unserer Gesellschaft in all ihrer Vielfalt zu thematisieren: Migrationsgeschichte.
Diesen Beitrag kannst du dir auch in meinem Podcast | Geschichte 21 anhören: Migrationsgeschichten im Geschichtsunterricht.
3 Tipps zum türkisch-deutschen Anwerbeabkommen im Fach Geschichte
Das Abkommen aus dem Jahre 1961 jährt sich alljährlich am 30. Oktober. Es läutete die erste Phase der Arbeitsmigration ein, die einseitig von der Türkei in die BRD verlief, die sogenannte „Gastarbeiterperiode“ (vgl. Dayi 2011). Inzwischen lebt bereits die dritte Generation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland – die Enkelinnen und Enkel derjenigen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Regel noch gar nicht wussten, dass sie dauerhaft in Deutschland leben oder zwischen der BRD und ihrer ersten Heimat in der Türkei pendeln würden. Denn Familienbesuche und der Sommerurlaub in der Türkei gehörten in vielen Familien türkischer Herkunft zum Alltag.
[E]s gibt historische Themen, die im gesellschaftlichen Diskurs oder im ‚kollektiven Gedächtnis‘ […] so präsent sind, dass man auf ihre Behandlung im Geschichtsunterricht nicht verzichten möchte.
Bernhardt / Gautschi / Mayer 2011: 20
In ihrer Schrift zur Themenbestimmung im Geschichtsunterricht plädieren Markus Bernhardt, Peter Gautschi und Ulrich Mayer u. a. dafür, Basisnarrative als Bestimmungsfaktoren für curriculare Entscheidungen heranzuziehen.
Basisnarrative beschrieben „eine historische Grundströmung innerhalb eines kulturellen Kollektivs“, sie dienten darüber hinaus der „identifikatorischen Selbstvergewisserung“ (Bernhardt/Gautschi/Mayer 2011: 20) dieses Kollektivs.
Sind Fragen und Inhalte der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (bereits) Basisnarrativ unserer Gesellschaft? Wie etwa in anderen Migrationsgesellschaften, wie beispielsweise der britischen oder US-amerikanischen Gesellschaft, in der jeweils eine rege soziale wie kulturelle Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichte(n) zu beobachten ist? In der Migrantinnen und Migranten sowie deren Nachfahren sich mit ihren Geschichten auseinandersetzen, sie schreiben, sie erzählen, sie in ihrer Poesie, ihren Filmen aufgreifen, zur Darstellung bringen?
Wie auch immer du diese Frage beantwortest, eines liegt auf der Hand: Unsere Lerngruppen selbst sind durchzogen von Migrationsgeschichten. Grund genug, das Thema auch in unserem Geschichtsunterricht breiter zu behandeln, damit unsere Lernenden Entstehung, Verlauf und Folgen der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland rekonstruieren können sowie mit Bezug auf ihre Gegenwart und Zukunft in einer Migrationsgesellschaft mittels auch biographischer Zugriffe ihre Empathiefähigkeit weiter entwickeln.
Daher gebe ich dir heute drei Anregungen für die Thematisierung der Folgen des türkisch-deutschen Anwerbeabkommens in deinem Geschichtsunterricht.
1. Tipp: Analyse und Interpretation von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kannst du leicht mit Blick auf Fragen nach Erfahrungen mit Migration und kultureller Assimilation bzw. Integration in deinen Geschichtsunterricht einbinden:
- Interpretation „fertiger“ Geschichten: Schulbücher bieten „stundengerechte“ Ausschnitte aus Interviews an, die deine Schülerinnen und Schüler zur Interpretation heranziehen können. Ebenfalls – in zeitlicher Hinsicht – „stundengerechte“ Auszüge aus Erinnerungen türkischer Zuwanderinnen und Zuwanderer findest du z. B. in der schriftlichen Online-Sammlung Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich (Bundeszentrale für politische Bildung 2011), die auf dem Buch von Jeanette Goddar und Dorte Huneke Auf Zeit. Für immer. Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich (2011) beruht.
- Generierung „neuer“ Geschichten: Vielleicht kennst du oder kennen deine Schülerinnen und Schüler Zeitzeuginnen und Zeitzeugen? Dann ladet sie in euren Geschichtsunterricht ein. Du flankierst eure Interview-Stunde mit ein, zwei Stunden zu Chancen, Herausforderungen und Grenzen von Oral History sowie der Vorbereitung des Interviews und einer Auswertungsstunde im Anschluss.
- Unterrichtsmaterial für eine „Hintergrundnarration“ zu den Interviews: Die Extra-Ausgabe der Reihe Themenblätter im Unterricht der Bundeszentrale für politische Bildung von Sema Dayi 50 Jahre Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen unterstützt dich und deine Schülerinnen und Schüler mit Unterrichtsmaterial für eine „Hintergrundnarration“ zu euren Interviews. Es bietet dir Material für vier Phasen, ggf. vier Stunden einer Unterrichtssequenz, zur Thematik: a) Wie alles begann; b) Die „Gastarbeiterperiode“; c) Der Anwerbestopp und die Folgen; d) Die Zuwanderungspolitik (2000 bis heute). Du findest dort ergänzend Hinweise zu weiterem Material zum Thema. Die Blätter sind vergriffen, hier aber noch als PDF-Dokument zugänglich.
2. Tipp: Geschichte(n) erzählen: Einen Podcast produzieren
Hast du die Möglichkeit an deiner Schule (z. B. an Thementagen oder einem Frei Day) projektorientiert zu arbeiten? Dann lass deine Schülerinnen und Schüler Zeitzeuginnen und Zeitzeugen doch selbst interviewen und eine Podcastfolge bzw. eine Podcastserie dazu produzieren.
Verwendet dafür einfach die Aufnahmefunktion des Smartphones, falls eure Schule noch kein Aufnahmestudio zur Verfügung hat. Oder du lässt deine Schülerinnen und Schüler ihr geführtes Interview auswerten und eine Podcast-Folge dazu erstellen – mit Stimmen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sowie der historischen Narration deiner Schülerinnen und Schüler.
Unterstützendes Material können deine Schülerinnen und Schüler u. a. in den obig erwähnten Themenblättern der Bundeszentrale für politische Bildung finden.
3. Tipp: Migrationsgeschichte als Facharbeitsthema
Last, but not least, doch deutlich individueller und mit deutlich mehr Zeit, die dafür zur Verfügung steht: Motiviere einige deiner Schülerinnen und Schüler in der Sek. II doch dazu, für ihre Facharbeit eine qualitative Analyse von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durchzuführen, mit:
- einer methodischen Einleitung und einer Erörterung der Chancen und Grenzen von Oral History,
- der Analyse des/der Interview/s,
- einem Fazit zur gestellten Leitfrage der Arbeit, z. B. der Frage nach Assimilation und Integration oder nach Identifikationsmustern.
Solch ein Facharbeitsthema können deine Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit alternativen Präsentationsformen verknüpfen, z. B. mit der Erstellung einer Podcastfolge bzw. Podcast-Serie. Eine Arbeit zu zweit oder in einem Team ist ebenfalls denkbar und durchführbar.
Wie gehst du mit dem Thema in deinem Geschichtsunterricht um?
Hast du Fragen, Kommentare, Anregungen? Hast du das Thema bereits einmal lernförderlich und erfolgreich in deinen Geschichtsunterricht integriert?
Dann vergiss nicht deine Anregungen oder auch Fragen und Rückmeldungen in den Kommentaren unten mit deinen Kolleginnen und Kollegen zu teilen!
Autor: Utz Klöppelt
Hier schreibt dein Kollege – mit mehr als 15 Jahren Erfahrung in Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik, Gründer von Geschichte 21.
Ich helfe Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern dabei, ihren Geschichtsunterricht noch besser zu machen!
Auf meinem Blog Geschichte 21 und in meinem Flugblatt | Geschichte 21, dem Newsletter für die 5-Minuten-Tipps für dein Fach Geschichte, erhältst du mindestens zwei Mal pro Woche Anregungen und Hinweise für deinen Unterricht!
Mein geballtes Wissen und meine gesamte Expertise stelle ich dir in meinen beliebten Fortbildungen, Kursen, Workshops, einem plattform-internen Podcast und Webinaraufzeichnungen in meiner Akademie | Geschichte 21, dem Online-Portal für den Geschichtsunterricht, zur Verfügung! Du kannst die Themen deiner Wahl dort auf Abruf vertiefen!
Dort findest du auch Unterrichtsmaterial zum Download für deinen Geschichtsunterricht.
Abseits von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht findest du mich u. a. beim Sport (Rudern, Stand-up-Paddling und Basketball) sowie beim Lesen von vorwiegend amerikanischer Literatur!
Literatur
- Markus Bernhardt, Peter Gautschi, Ulrich Mayer (2011). Historisches Lernen angesichts neuer Kerncurricula. Von Bildungsstandards und Inhaltsfeldern zur Themenbestimmung und Unterrichtsplanung im Geschichtsunterricht, hg. v. Institut für Qualitätsentwicklung des Hessischen Kultusministeriums, URL: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/geschichte/grundlagentext-bernhardt_gautschi_mayer_historisches_lernen-kerncurricula.pdf (Zuletzt aufgerufen: 20.8.2024).
- Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.; 2011). „Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich“, aus dem Dossier 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei, URL: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/43166/portraits (Zuletzt aufgerufen: 20.8.2024).
- Sema Dayi (2011). 50 Jahre Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen. 5 Arbeitsblätter als Kopiervorlage, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung aus der Reihe Themenblätter im Unterricht/Extra, URL: https://www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/60505/50-jahre-deutsch-tuerkisches-anwerbeabkommen (Zuletzt aufgerufen: 20.8.2024).
- Jeanette Goddar und Dorte Huneke (Hg.; 2011). Auf Zeit. Für immer. Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich. Ein Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung und des KulturForums TürkeiDeutschland e. V., Schriftenreihe Band 1183, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Bildnachweise
- Beitragsbild: Dorf bei Aslanbeyli in Zentralanatolien, Türkei © Utz Klöppelt – Geschichte 21, Oktober 2021.
- Panorama Landschaft und Dorf bei Pınarbaşı/Kayseri, Türkei © Utz Klöppelt – Geschichte 21, Oktober 2021.
- Porträt © Utz Klöppelt.
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