Du suchst nach neuem Material zum Thema Flucht, Vertreibung, Migration für deinen Geschichtsunterricht? In diesem Beitrag stelle ich dir das Online-Projekt des Hauses der Kulturen in Berlin vor: das Archiv der Flucht mit Zeitzeug:innen-Interviews zur Geschichte der Migration in die Bundesrepublik Deutschland nach 1945.
Projektidee und Zielsetzungen des Archives der Flucht
Wir leben in einer Gesellschaft mit Menschen aus vielen verschiedenen Herkunftsländern. Flucht und Migration scheinen zur „historische[n] Normalität“ (Haus der Kulturen 2021a) geworden zu sein. Das Projekt Archiv der Flucht versammelt daher Personen, die in Interviews ihre Migrationsgeschichten erzählen. Zu Wort kommen insgesamt 41 Menschen, die zwischen 1945 und 2006 aus 27 verschiedenen Ländern nach Deutschland kamen.
Zur Zielsetzung des neuen Online-Portals des Hauses der Kulturen in Berlin schreiben die Herausgeber:innen:
Das Archiv der Flucht will die Erfahrungen, die die Flucht verursachten und die sich hier kreuzen, bewahren, weil sie sonst vergessen und verdrängt werden. Erst mit und durch diese Geschichten kann es gelingen, die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu verstehen.
Haus der Kulturen der Welt 2021a
Bei der Realisierung des Projektes wurde bewusst auf eine interdisziplinäre und vielfältige Besetzung des Teams Wert gelegt. Beispielsweise fungiert Malek Bajbouj, Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Charité Berlin, als „Ethikkomissar“. Auch auf Basis seiner Expertise als Initiator von Projekten für Geflüchtete im von uns aus gesehenen Mittleren und Fernen Osten war er u. a. dafür verantwortlich, dass durch die Interviews traumatische Erfahrungen der Interviewpartner:innen von Flucht bzw. Vertreibung oder möglicherweise von den Anhörungen des Bundesamtes für Migration und Flucht nicht wiederholt oder verstärkt würden (vgl. Haus der Kulturen der Welt 2021a und 2021b).
Die Auswahl der Interviewten wurde derart vorgenommen, dass nicht diejenigen zu Worte kommen, die ohnehin durch privilegierte Positionen gehört und gesehen werden können. Herausgekommen sind Interviews mit Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern, aus verschiedenen Generationen, mit Frauen, mit Männern, weniger gut Ausgebildeten, Berufstätigen.
Dieser Vielfalt wird von der Filmemacherin Heidi Specogna bewusst eine Filmästhetik entgegen gesetzt, die allen Interviewten gleichermaßen mit Respekt begegnet: die Kulisse für die Gespräche ist für alle gleich.
Kuratiert wird das Archiv der Flucht von der Philosophin und Publizistin Carolin Emcke, wissenschaftlich beraten von Stefanie Schüler-Springorum, u. a. Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.
Was bietet uns das Archiv?
Mittels einer Suchmaske kannst du Interviews leicht ausfindig machen:
- Herkunftsländer: Afghanistan (3), Bosnien (2), Chile (1), Schlesien (1), Togo (1), Iran (3), Ungarn (1), Gambia (1), Ecuador (1), Türkei (2), Syrien (5), Russland (3), DDR (1), Eritrea (2), Kamerun (2), Tschad (1), China (1), Senegal (1), Sri Lanka (1), Somalia (1), Mosambik (1), Uganda (1), Kenia (1), Vietnam (1), Nord-Irak-Kurdistan (1), ehemalige Sowjetunion/Ukraine (1), syrisch-Kurdistan (1)
- Interview-Sprachen: Die deutliche Mehrheit der Interviews wurde auf Deutsch und Englisch durchgeführt (32 und 10), die übrigen in der Erstsprache der Interviewten. Alle Interviews in der Erstsprache der Interviewten sind übersetzt worden (Stimme aus dem Off).
- Alter und Fluchtjahre: Es wurden mehrere Generationen Geflüchteter befragt. Das Alter der Interviewpartner:innen liegt zwischen 20 und 89 Jahren. Die Mehrzahl der Teilnehmenden ist zwischen 30-39 Jahre sowie 50-59 Jahre alt. Die Fluchtjahre erstrecken sich von 1945 (Schlesien) bis 2018 (Kamerun).
Die Interviews sind zwischen einer Stunde und fünfeinhalb Stunden lang, so dass eine Segmentierung bzw. didaktische Reduktion für unseren Unterricht notwendig ist. Die bereits vorgenommene Sequenzierung eines jeden Interviews (vgl. Abbildung rechts) erleichtert uns diese Aufgabe sehr. Zudem erlaubt sie es uns und unseren Schüler:innen, beispielsweise zwecks eines Vergleichs der Erfahrungen des Ankommens verschiedener Geflüchteter in Deutschland, Interviewsequenzen gezielt anzusteuern.
Das Archiv der Flucht im Geschichtsunterricht
Toleranz , Empathie, sozialen Frieden können wir zum Beispiel dann schaffen und fördern, wenn wir die Geschichten derer hören und interpretieren, die wir sonst in unserem näheren Umfeld nicht hören oder die keinen oder nur wenig Eingang in unsere Geschichtsbücher gefunden haben.
Migrationsgeschichten aus der Bundesrepublik Deutschland können in verschiedenen Jahrgangsstufen lernförderlich in unseren Geschichtsunterricht integriert werden – in den meisten Bundesländern sowohl in der Sek. I als auch in der Sek. II, z. B. dann, wenn es um die Thematisierung von Flucht und/oder Vertreibung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges oder aus der DDR geht oder wenn wir die Geschichte der Migration in die Bundesrepublik Deutschland thematisieren.
Die Fragen, die die Herausgeber:innen selbst mit dem Archiv der Flucht stellen, können allesamt als mögliche Leitfragen für eine Sequenz einer Unterrichtsreihe in unserem Geschichtsunterricht dienen:
Welche Ähnlichkeiten spiegeln sich in den unterschiedlichen Fluchterfahrungen und welche Unterschiede werden deutlich? Mit welchen Wünschen und Ambitionen, aber auch welchen Traumata sind die Menschen hierhergekommen? Welche Erfahrungen des Ankommens und der Ausgrenzung wiederholen sich? Wie werden die sozialen, politischen oder kulturellen Schwellen der Zugehörigkeit verhandelt oder verändert? Was erzählen sie uns über das Hier? Was heißt das einheitlich: Flucht?
Haus der Kulturen der Welt 2021a
Didaktisch können die Interviews unterschiedlich verortet, methodisch auf verschiedene Weise einer Bearbeitung zugeführt werden.
Weitere Angebote zum Thema in der Akademie | Geschichte 21
In diesen „Steckbriefen“ und Kursen findest du weitere Informationen und Anregungen für deinen Unterricht:
- Steckbrief Zeitzeugenportal mit Interviews von 1914 bis 2006
- Steckbrief Zeitzeugen in einer AR-App
- Im Kurs Flucht, Vertreibung, Versöhnung online findest du Informationen zum Dokumentationszentrum (Berlin) der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sowie Anregungen zum Einsatz in deinem Unterricht.
Zur Vertreibung, Flucht und Suche um Asyl von Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland empfehle ich dir auch den Artikel Vertreibung, Flucht und Asyl im Geschichtsunterricht – mit einem Hinweis auf ein Arbeitsblatt-Set zum Download für deinen Geschichtsunterricht.
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Autor: Utz Klöppelt
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Abseits von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht findest du mich u. a. beim Sport (Rudern, Stand-up-Paddling und Basketball) sowie beim Lesen von vorwiegend amerikanischer Literatur!
Literatur
- Haus der Kulturen der Welt (2021). Archiv der Flucht, URL: https://archivderflucht.hkw.de (Zuletzt aufgerufen: 18. Oktober 2021).
- Haus der Kulturen der Welt (2021a). „Über das Projekt“, URL: https://archivderflucht.hkw.de/ueber-das-projekt/ (Zuletzt aufgerufen: 18.10.2021).
- Haus der Kulturen der Welt (2021b). „Mitwirkende“, URL: https://archivderflucht.hkw.de/mitwirkende/ (Zuletzt aufgerufen: 18.10.2021).
Bildnachweise
- Beitragsbild: Archiv der Flucht © HKW (Haus der Kulturen der Welt, Berlin).
- Fatuma Musa Afraah – Archiv der Flucht © Heidi Specogna / HKW (Haus der Kulturen der Welt, Berlin).
- Interview mit Fatuma Musa Afraah aus Somalia © Archiv der Flucht; Screenshot/Bildzitat Utz Klöppelt – Akademie | Geschichte 21, URL: https://archivderflucht.hkw.de/fatuma-musa-afrah/ (Zuletzt aufgerufen: 18.10.2021).
- Porträt © Utz Klöppelt.
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