Am Mittwoch, den 30. November 2022 hat der Deutsche Bundestag nach 45-minütiger Aussprache über den Antrag mit dem Titel Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen abgestimmt.
Die damaligen Regierungsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und auch die Oppositionspartei CDU/CSU hatten den Antrag gemeinsam angekündigt, mit dem der Holodomor auch als Genozid bzw. Völkermord anerkannt werden sollte. Ob dem Antrag zugestimmt wurde, aber vor allem, inwiefern die Debatte um eine Einordnung des Holodomor als Völkermord bzw. Genozid im Geschichtsunterricht thematisiert werden kann oder sollte, erfährst du u.a. in diesem neuen Beitrag bzw. in der neuen Folge meines Podcasts | Geschichte 21:
- Im ersten Teil geht es nicht um die Ereignisgeschichte des Holodomor, sondern um die Debatte um die Einordnung des Hungerkrieges Stalins gegen die Bevölkerung verschiedener Regionen der Sowjetunion in den 1930er Jahren als Völkermord bzw. Genozid.
- Im zweiten Abschnitt gebe ich dir wie gewohnt ganz im Sinne der „5-Minuten-Anregungen“ für deinen Geschichtsunterricht Tipps dazu, unter welchen Aspekten du die politische Anerkennung des Holodomor als Völkermord nach der Debatte im Deutschen Bundestag Ende November 2022 im Fach Geschichte thematisieren kannst.
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Der Holodomor – ein Genozid bzw. Völkermord?
Damit du gut informiert bist, solltest du den Holodomor im Zusammenhang mit der Frage nach der Anerkennung als Völkermord bzw. Genozid in deinem Geschichtsunterricht ansprechen wollen, bspw. in einer Unterrichtsreihe zum Vergleich der NS-Diktatur mit dem autoritären stalinistischen System der Sowjetunion, solltest du dich kurz mit ein paar Infos zum Begriff „Völkermord“ bzw. „Genozid“ vertraut machen.
Raphael Lemkins Definition von „Genozid“
Der Begriff „Genozid“ hängt historisch betrachtet tatsächlich auch mit der Ukraine zusammen, genau genommen mit Raphael Lemkin, der Jura an der Universität der polnisch-ukrainischen Stadt Lviv studierte. Auch wenn er Lviv 1929 in Richtung Warschau verließ, beschäftigte er sich mit der Geschichte seiner Region und mit den Morden an Armeniern in der Türkei zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Ihn bewegte u.a. die Frage, wann bzw. inwiefern der von ihm ins Gespräch gebrachte Begriff „Genozid“ verwendet werden könnte und wie solche Ereignisse verhindert werden könnten. Die Auseinandersetzung mit Genozid oder Völkermord ging also nicht zurück auf den Umgang mit dem Holocaust, sondern geschah u.a. aus Anlass des Völkermordes an den Armeniern.
Kurz am Rande, aber nicht unwichtig: Wenn dich die Geschichte des Völkermordes an den Armeniern und Raphael Lemkins Wirken und Eintreten für das damals neue juristische Konzept des Völkermordes interessierst, empfehle ich dir die sechsteilige Podcastserie von Christine Marth, Ani Menua und Christin Pschischholz aus dem Jahre 2024: Der Podcast Gewalt und Gerechtigkeit macht den Genozid an den Armeniern zum Thema.
Nun aber zurück zu Raphael Lemkin und seiner Definition des Begriffs „Genozid“. Ich zitiere ihn aus dem Buch Red Famine. Stalin’s War on Ukraine von der Historikerin Anne Applebaum aus dem Jahre 2017:
‘Genozid‘ definierte Lemkin, der in die USA geflüchtet war, 1944 als Prozess: ‘[Genocide] is […] intended to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. The objectives of such a plan would be disintegration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belonging to such groups.“ (Lemkin 1944, zit. nach Applebaum 2017: 355)
Lemkin definiert Genozid demnach als koordinierten Plan, eine Gruppe zu vernichten. Zu den zu diesem Zweck eingesetzten Mitteln gehörten u.a. eine Desintegration politischer und sozialer Institutionen, der Kultur dieser Gruppe, der Sprache, nationaler Gefühle, Religion und ökonomischer Grundlagen dieser Gruppe – im Zusammenhang mit einem Angriff auf persönliche Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar das Leben von Mitgliedern dieser Gruppe.
Wenn wir heute mit dem Holocaust als Genozid in die Tat umgesetzte Morde assoziieren, dann geht diese Definition von Lemkin noch weiter, indem sie feststellt, dass Mord kein notwendiges Merkmal von Genozid ist. Nach den Nürnberger Prozessen – Lemkin war übrigens Berater des US-amerikanischen Hauptanklägers Robert H. Jackson – und der Resolution der Vereinten Nationen von 1948 wurde „Genozid“ jedoch verengt auf die physische Vernichtung einer gesamten ethnischen Gruppe, dem Holocaust ähnlich.
Auf den Holodomor – das ukrainische „holod“ bedeutet „Hunger“, „mor“ Vernichtung – passt der Begriff „Genozid“ in diesem engen juristischen Sinne nicht, wie die Historikerin Anne Applebaum feststellt, denn die ukrainische Hungersnot (1932) sei kein Versuch gewesen, die gesamte ukrainische Bevölkerung zu ermorden, sie wurde zudem im Sommer 1933 gestoppt und blieb nicht allein auf ukrainische Regionen der Sowjetunion beschränkt.
Geschichtspolitik mit dem Holodomor
Und doch: Um den Begriff „Genozid“ hat sich im Zusammenhang mit der von Stalin entfesselten Hungersnot eine Debatte bzw. ein politischer Streit entwickelt. Um es kurz zu machen: Für Ukrainer:innen leistet die Erinnerung an die Hungersnot nach der Unabhängigkeit (1991) einen Beitrag zur nationalen Identitätsbildung. Nach innen dient der Begriff „Genozid“ auf der einen Seite einer Stärkung nationaler Identität, nach außen einer Abgrenzung gegenüber der Russländischen Föderation.
Während für Historiker:innen der Geschichte der Russländischen Föderation der Holodomor inzwischen kaum Anlass für Kontroversen bietet – debattiert wird nur noch um die Zahl der Opfer, wird er von Putin spätestens seit 2014 wieder politisch in Dienst genommen: Der Holodomor wird geleugnet, nur „Nazis“ erinnerten daran bzw. erkannten ihn als Genozid an. Putin befeuert die „Genozid“-Debatte wieder neu und nimmt sie mit seiner „Misinformation“ oder „Malinformation“ bewusst für seine politischen Zwecke und seine Propaganda in Dienst.
Sich davon abzugrenzen ist wohl daher politische wie geschichtswissenschaftliche Notwendigkeit – auch wenn die Historikerin Anne Applebaum in ihrer Monographie über die Hungersnot und die Debatte um den Begriff abschließend, die „Genozid-Debatte“ bilanzierend, feststellt, dass es gar nicht so entscheidend sei, ob der Holodomor in einem engen juristischen Sinne ein Genozid sei:
The accumulation of evidence means that it [the genocide debate] matters less, nowadays, whether the 1932-33 famine is called a genocide, a crime against humanity, or simply an act of mass terror. Whatever the definition, it was a horrific assault, carried out by a government against its own people. It was one of several such assaults in the twentieth century, not all of which fit into neat legal definitions.“ (Applebaum 2017: 362)
Zurück ins Jahr 2022: Als der Deutsche Bundestag am 30.11.2022 den Holodomor als „Genozid“ bezeichnete und als solchen anerkannte , dann wohl sicher weniger um eine wissenschaftlich oder juristisch fundierte Feststellung zu treffen, sondern um in diesen Zeiten viel mehr noch eine (politische) Aussage über die Unabhängigkeit und nationale Identität der Ukraine zu treffen.
Die Debatte um den „Holodomor“ im Fach Geschichte thematisieren
Kommen wir damit zum zweiten Teil dieses Beitrags: Wie kannst du all dies in deinem Fach Geschichte thematisieren? Gleich vorweg: Vertiefende Hinweise und Anregungen zu dieser Frage findest du im Modul zum Holodomor in meinem Kurs Die Ukraine im Geschichtsunterricht in meiner Akademie | Geschichte 21, dem beliebten Online-Portal für Geschichtslehrer:innen.
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Hier nur in aller Kürze: Neben einer Thematisierung der Ereignisgeschichte des Holodomor eignet sich die Aussprache um den Holodomor im Deutschen Bundestag insofern, als dass Folgendes deutlich werden kann:
- Es kann unseren Schüler:innen deutlich werden, wo die Unterschiede zwischen Geschichtspolitik, Rechts- und Geschichtswissenschaft liegen. Denn wenn der Deutsche Bundestag feststellt, dass aus heutiger Perspektive mit dem Holodomor eine historisch-politische Einordnung als Völkermord naheliege, dann wird diese Aussage von einer politischen Institution ausgesprochen, nicht von einem Gericht, nicht von einer Historikerin. Der Aussage kommt daher eher politische denn wissenschaftliche Bedeutung zu, wenngleich politische Formulierungen stets hoffentlich auch behutsam mit Blick auf historische Forschungsergebnisse und auch ein klein wenig auf geschichtswissenschaftliche Kontroversen geäußert sein sollten.
- Wir können in unserem Geschichtsunterricht die Aussprache im Bundestag zum Holodomor mit der Debatte um eine vermeintliche Relativierung des Holocaust verknüpfen, denn ausdrücklich wird hervorgehoben, dass der Holodomor in eine Zeit unvorstellbarer Menschheitsverbrechen falle, zu denen auch der Holocaust gehöre, deren Singularität in der Aussprache im Bundestag aber explizit betont wird.
- Und Last, but not least: da der Bundestag mit seiner Aussprache zum Thema in den kämpferisch geführten Diskurs um den Holodomor zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation eintritt, kann und sollte die politische Funktion bzw. das Wirkungspotenzial mit Blick auf (politische) Identitätsbildung und Parteinahme eine Rolle spielen. Denn die Resolution wendet sich deutlich gegen die Propaganda Putins bzw. der Russländischen Föderation, unterstreicht den Opferstatus der Ukraine sowie deren staatliche Unabhängigkeit, in der der Holodomor eine bedeutende Rolle im Rahmen nationaler Identitätsbildung spielt.
Wenn du die Aussprache im Deutschen Bundestag mit deinen Schüler:innen thematisieren möchtest, dann empfehle ich beispielsweise eine Analyse der Reden zum Tagesordnungspunkt – im Rahmen des ein oder anderen obig aufgeführten Schwerpunktes.
Shownotes | Links
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- Podcast Gewalt und Gerechtigkeit (2024) zur Geschichte des Völkermordes an den Armeniern und der folgenden juristischen Auseinandersetzung
- Wenn du dich weiter mit dem Holodomor auseinandersetzen möchtest, empfehle ich dir das Buch von Anne Applebaum (2017). Red Famine. Stalin’s War on Ukraine, New York: Penguin Random House.
- Die Definition von Lemkin zum Genozid findest du direkt in: Raphael Lemkin (1944). Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation – Analysis of Government – Proposals for Redress, Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace.
Autor: Utz Klöppelt
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Bildnachweise
- Beitragsbild: Podcastcover © Utz Klöppelt – Akademie | Geschichte 21.
- Porträt Utz Klöppelt © Utz Klöppelt – Akademie | Geschichte 21.
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