Seuchen verstärken soziale Ungleichheit, soziale Ungleichheit verstärkt Seuchen! Der Tod ist halt doch kein Gleichmacher, wie auch der Historiker Malte Thiessen in seinem jüngst erschienenen Buch, u. a. zu mittelalterlichen „Totentanz“-Darstellungen, feststellt (vgl. Thiessen 2021: 144ff.). Wie deine Schülerinnen und Schüler in deinem Fach Geschichte sowohl Orientierung für Gegenwart und Zukunft gewinnen als auch Distanzierung von gegenwärtigen Phänomenen rund um die Pandemie zum Zwecke einer rationalen Auseinandersetzung damit erreichen, zeige ich dir mit vier Anregungen auf.
Vergleiche mit Sophie Scholl – legitimes Protestverhalten?
Starten wir gleich mit der ersten Anregung! Sie zielt ab auf eine Thematisierung von Vergangenheitsbezügen als Bestandteil der Protestkultur auf Demonstrationen rund um die Corona-Pandemie.
Du kennst sie zur Genüge, die Bilder und Berichte, beispielsweise:
- zu einer Äußerung man fühle sich wie Sophie Scholl (WELT YouTube Channel 2020),
- zu Plakaten auf Demonstrationen, auf denen zu lesen steht, dass man 1989 für Freiheit gekämpft habe und es nun erneut tun müsse (Schwarz 2020),
- zu Kampagnen vom Impfverweigerern oder Impfgegnern mit dem gelben Davidstern (rbb24 2022)
Uns Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern und vielen anderen ist klar: Protestierende können sich zwar wie Sophie Scholl fühlen, sie sind es aber nicht und ihr Protest kann auch nicht mit dem Widerstand der Weißen Rose gleichgesetzt werden. Unser politisches System ist zudem gänzlich anders als dasjenige der DDR vor dem 9. November 1989, die Situation von Impfverweigerern oder Impfgegnern sowie deren Stigmatisierung, sollte sie denn stattfinden, ist deutlich und mit Vehemenz von der Situation von Juden während der 1930er- und 1940er-Jahre zu unterscheiden!
Ich gebe dir daher zwei Anregungen, wie wir beispielsweise mit obig geschilderten Vergangenheitsbezügen umgehen können – und ich appelliere daran, dies auch zu tun:
- Historischer Vergleich: Aus rationaler Sicht ist es klar – und so werden es die (meisten) Schülerinnen und Schüler auch in ihrem sachlichen Urteil festhalten: die Situation heute kann angesichts unserer historischen Kenntnisse nicht mit der NS- oder DDR-Diktatur gleichgesetzt werden. Eine Überprüfung der heute postulierten Meinungen, Behauptungen oder Wahrnehmungen fördert also den reflektierten Umgang mit ihnen und das Geschichtsbewusstsein unserer Schülerinnen und Schüler.
- Werturteile fällen und rote Linien ziehen: Handelt es sich mit den obig geschilderten Vergangenheitsbezügen aber um Geschichtsvergessenheit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn wir müssen noch eine weitere Charakterisierung vornehmen: Die Bezüge auf NS- und DDR-Diktatur finden im Rahmen eines Protestes statt. Sie sind hochgradig eskaliert und emotionalisiert. Wir können und müssen sie daher auch im Rahmen der Protestkultur der Bundesrepublik Deutschland thematisieren. Mit dem Wort „Protestkultur“ adeln wir die Vergangenheitsbezüge jedoch nicht. Wir rücken damit vielmehr Merkmale von Protestverhalten in den Blick: Provokation, Emotionalisierung etc. und damit auch eine mutmaßliche Intention der Protestierenden: nicht in jedem Fall einen rationalen, wissenschaftlich stichhaltigen historischen Vergleich vornehmen zu wollen, sondern u.a. Befindlichkeiten, Meinungen, Gefühle und Emotionen auszudrücken oder auch bewusst zu provozieren. Entschuldigt ist damit jedoch nichts. Es muss sich unzweifelhaft und unaufschiebbar ein Werturteil anschließen! Die Schülerinnen und Schüler sollten rote Linien definieren: Was ist moralisch tragfähig, was nicht mehr? Was diffamiert die Opfer der NS- und DDR-Diktatur? Etc.
Wenn du die NS- oder DDR-Diktatur zurzeit unterrichtest, dann denke daran: beide Umgangsweisen mit den hier beispielhaft genannten Vergangenheitsbezügen sind wichtig – und, ein Appell: Lass die Chance, das Protestverhalten zu thematisieren nicht ungenutzt! Wir stehen als Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer auch in der Verantwortung, Problematisches und moralisch Verwerfliches in unserem Geschichtsunterricht aufzugreifen!
Unterrichtlich verorten kannst du all dies beispielsweise in einer Reihe zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zur Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland oder zur DDR-Diktatur.
Falls du gerade mit Sophie Scholl und der Weißen Rose Widerstand gegen die NS-Herrschaft in deinem Geschichtsunterricht thematisierst, lies auch meine Anregungen zum Umgang mit dem Instagram-Account zu Sophie Scholl.
[… D]er Staat hat die Pflicht, die Freiheit des Einzelnen … einzuschränken […].
Löwe 1874, zit. nach Reiter 2021b
Debatte um die Impfpflicht im Deutschen Kaiserreich
Paul Löwe war Arzt und Abgeordneter der liberalen Fortschrittspartei im Deutschen Reichstag. Auf der Debatte vom 18. Februar 1874 im Berliner Reichstag um eine Impfpflicht gegen die Pocken, die die Menschen seit dem 9. Jahrhundert n. Chr. plagte und die in ca. 30% der Fälle bei Ungeimpften nach Schüttelfrost und Fieber tödlich verlief, sprach er sich für eine Impfpflicht aus.
Der Staat habe die Pflicht, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken (vgl. Reiter 2021b), auch um das Wirtschafts- und Arbeitsleben aufrecht erhalten zu können.
Die Debatte steht im Kontext von Bestrebungen im Deutschen Kaiserreich, die Sterblichkeit unter Männern, Frauen und Kindern, nicht nur, aber auch hervorgerufen durch Pocken und Cholera, zu verringern, auch im Wettstreit mit anderen europäischen Nationen.
Benjamin Reiter von der Universität Bamberg hat für segu – selbstgesteuert entwickelnder geschichtsunterricht Material und Aufgaben für eine Unterrichtssequenz zur Frage nach der Impfpflicht im Deutschen Kaiserreich zusammengestellt (vgl. Reiter 2021a).
Die Aufgaben Reiters zu den Materialien münden in Formulierungen durch deine Schülerinnen und Schüler von Möglichkeiten, inwiefern die Diskussion um eine Impfpflicht heute sachlicher geführt werden könnte.
Angesichts der Debatten um eine Impfpflicht empfehle ich dir den Einsatz in deinem Geschichtsunterricht, wenn es gerade in deine Unterrichtsreihe passt, beispielsweise zum Deutschen Kaiserreich oder zur Sozialen Frage im Kontext einer Reihe zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Wenn wir zudem Demokratie in einem weiten Sinne als die Herrschaft der Freien und Gleichen betrachten, dann ist die Frage nach der Impfpflicht selbstverständlich auch mit der Frage nach Demokratisierung verknüpft. In diesem Zusammenhang empfehle ich dir das Buch von Hedwig Richter, das ich dir in meinem Artikel zu 5 Buchtipps zu Demokratie und Demokratisierung kurz erläutere.
Eine weitere Anregung zu einem möglichen Gegenwartsbezug zur Pandemie gebe ich dir mit dem nächsten Hinweis – ausgehend von dem jüngst erschienenen Buch des Historikers Malte Thiessen zu historischen Bezügen anlässlich der Corona-Pandemie.
Seuchen gelten als große Gleichmacherinnen. Demnach unterscheiden Viren nicht zwischen Schicht und Geschlecht, zwischen Beruf, Bildung oder Herkunft. Diese Gleichmacherei ist ein typisches Krisenphänomen. […] Vor dem Seuchentod waren alle gleich – vom König bis zum Bettler. […] Falls diese Vorstellung jemals gestimmt hat, wurde sie spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts obsolet.
Thiessen 2021: 144
Totentanz-Darstellungen im Mittelalter
Bist du in deinem Geschichtsunterricht gerade „im Mittelalter unterwegs“? Dann solltest du mit meiner dritten Anregung hier die mittelalterlichen „Totentanz“-Darstellungen kritisch in den Blick nehmen. Sie sind nicht ideologiefrei. Denn der Tod durch die Pest war kein sozialer Gleichmacher.
Wie der Historiker Malte Thiessen in seinem jüngst erschienenen Buch Auf Abstand. Ein Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie (2021) feststellt, waren ärmere soziale Schichten von der Pest deutlich stärker betroffen als Wohlhabendere. Dies gilt auch für moderne Seuchen. Seuchen verstärken soziale Ungleichheit, soziale Ungleichheit verstärkt Seuchen (vgl. Thiessen 2021: 144ff.).
Thiessen zeigt dies beispielsweise für die mittelalterlichen „Totentanz“-Darstellungen auf, „in denen die Pest als Bedrohung aller Stände gezeichnet wurde“ (Thiessen 2021: 144). Sozial und ökonomisch Benachteiligte waren jedoch ungleich stärker von der lebensbedrohlichen Pest betroffen. Dies gilt ebenso für die Cholera-Epidemie im 19. Jahrhundert und jüngst die Corona-Pandemie (vgl. Thiessen 2021: 144f.)
Das Buch Thiessens macht übrigens ausgehend von der gegenwärtigen Pandemie noch zahlreiche weitere Vergangenheitsbezüge auf. Es ist damit auch eine Fundgrube für unseren Geschichtsunterricht.*
Verschwörungserzählungen im Geschichtsunterricht
Last, but not least, meine vierte Anregung: Verschwörungserzählungen sind nicht nur, aber vor allem ein Krisenphänomen. Sie kommen und gehen wie Krisen kommen und gehen – mag man meinen. So einfach ist es aber nicht: es hat sie immer gegeben und es wird sie vielleicht auch immer geben, die Frage ist nur: Warum und wie sollten sich unsere Schülerinnen und Schüler mit ihnen im Geschichtsunterricht auseinandersetzen?
Antworten darauf sowie unterrichtspragmatische Zugänge gebe ich dir im Kurs Verschwörungserzählungen analysieren und kritisieren in meiner Akademie | Geschichte 21.
Falls du derzeit die Amerikanische Revolution oder den Ersten Weltkrieg unterrichtest, stelle ich dir dort einen Download zur Analyse und Kritik einer Verschwörungserzählung zum Ersten Weltkrieg zur Verfügung, gebe dir didaktische und methodische Hinweise zum Umgang mit Verschwörungserzählungen, weitere Materialtipps und einen Download für deinen Unterricht zu einer Desinformationskampagne von Benjamin Franklin.
Einen kleinen Auszug aus dem zehnmoduligen Kurs habe ich dir auch auf Geschichte 21 eingestellt (Klöppelt 2020).
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Tipps und Anregungen für deinen Geschichtsunterricht
Soweit meine vier Anregungen zu Vergangenheitsbezügen der Corona-Pandemie. Selbstverständlich gehen wir nicht nur sklavisch von gegenwärtigen Ereignissen aus, um Themen für unseren Geschichtsunterricht zu generieren, doch hin und wieder sollten wir dies tun!
Waren die Anregungen hilfreich für dich? Wie thematisierst du die Corona-Pandemie in deinem Geschichtsunterricht?
Melde dich sehr gerne unten im Kommentarbereich, solltest du ergänzende Hinweise, Fragen oder Feedback haben! Ich freue mich wie immer sehr über dein Feedback, deine Anregungen oder Fragen!
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Autor: Utz Klöppelt
Hier schreibt dein Kollege – mit mehr als 15 Jahren Erfahrung in Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik, Gründer von Geschichte 21.
Ich helfe Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern dabei, ihren Geschichtsunterricht noch besser zu machen!
Auf meinem Blog Geschichte 21 und in meinem Flugblatt | Geschichte 21, dem Newsletter für die 5-Minuten-Tipps für dein Fach Geschichte, erhältst du mindestens zwei Mal pro Woche Anregungen und Hinweise für deinen Unterricht!
Mein geballtes Wissen und meine gesamte Expertise stelle ich dir in meinen beliebten Fortbildungen, Kursen, Workshops, einem plattform-internen Podcast und Webinaraufzeichnungen in meiner Akademie | Geschichte 21, dem Online-Portal für den Geschichtsunterricht, zur Verfügung! Du kannst die Themen deiner Wahl dort auf Abruf vertiefen!
Dort findest du auch Unterrichtsmaterial zum Download für deinen Geschichtsunterricht.
Abseits von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht findest du mich u. a. beim Sport (Rudern, Stand-up-Paddling und Basketball) sowie beim Lesen von vorwiegend amerikanischer Literatur!
Literatur und Videos
- Klöppelt, Utz (2020). Verschwörungserzählungen im Geschichtsunterricht. Warum wir Verschwörungserzählungen im Geschichtsunterricht thematisieren sollten, Geschichte 21, 24.6.2020, URL: https://geschichte21.de/verschworungstheorien-geschichtsunterricht/ (Zuletzt aufgerufen: 18.1.2022).
- rbb24 (2022). Berliner Polizei geht vereinzelt gegen Impfpflicht-Gegner vor, rbb24, 26.1.2022, URL: https://www.rbb24.de/politik/thema/corona/beitraege/2022/01/bundestag-debatte-impfpflicht-proteste-berlin-brandenburg.html (Zuletzt aufgerufen: 22.11.2022).
- Reiter, Benjamin (2021a). „Die Pflicht die Freiheit des Einzelnen einzuschränken? Impfpflicht im Kaiserreich, segu-Modul, URL: https://segu-geschichte.de/impfpflicht/ (Zuletzt aufgerufen: 18.1.2022).
- Reiter, Benjamin (2021b). Impfpflicht. Quellen, URL: https://segu-geschichte.de/impfpflicht-quellen/ (Zuletzt aufgerufen: 18.1.2022).
- Schwarz, Christina (2020). „DDR-Vergleichen muss ich entschieden widersprechen“ – Forscherin über das Gefühl der „Corona-Bevormundung“, auf: Ida. Nachrichten vom 28.9.2020, URL: https://nachrichten.idw-online.de/2020/09/28/ddr-vergleichen-muss-ich-entschieden-widersprechen-forscherin-ueber-das-gefuehl-der-corona-bevormundung/ (Zuletzt aufgerufen: 18.1.2022).
- Thiessen, Malte (2021). Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
- WELT YouTube Channel (2020). „So ein Schwachsinn“: „QUERDENKEN“-Rednerin vergleicht sich mit Sophie Scholl, Videobeitrag vom 22.11.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=3Y7pNU03i-o (Zuletzt aufgerufen: 18.1.2022).
Bildnachweise
- Beitragscover: Soziale Ungleichheit © Canva, Utz Klöppelt – Geschichte 21.
- Beitragsbild: Moralische Grenzen setzen! © Canva, Utz Klöppelt – Geschichte 21.
- Beitragsbild: Robert Koch (Deutsche Cholera-Expedition in Ägypten 1884) © Public Domain via Wikipedia.
- Beitragsbild: Download zum Kurs Verschwörungserzählungen im Geschichtsunterricht © Utz Klöppelt – Akademie | Geschichte 21.
- Porträt © Utz Klöppelt.
* Werbung: unbezahlt, unbeauftragt.
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