[…] „Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen“ […]: Der Bildungstheorie und der Bildungspraxis werden die Möglichkeit und die Aufgabe zugesprochen, auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen nicht nur zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation […] zu beurteilen und mitzugestalten.
Wolfgang Klafki 1996: 50f.
Geschlechtergeschichte, außereuropäische Geschichte, Weltgeschichte, Epochenvielfalt in der Sek. II und, last but not least, Umweltgeschichte im Rahmen von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) – all diese Themenfelder und Dimensionen der Geschichtswissenschaft und gesellschaftlichen Diskussion spielen im Geschichtsunterricht (der Sek. II) kaum bis gar keine Rolle. Dies, obwohl beispielsweise die Problematik der Mensch-Umwelt-Beziehung, um die es in diesem Blogbeitrag geht, spätestens seit den 1980er-Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Das ist aber nun schon 40 Jahre her! Und der Geschichtsunterricht? Was ist seitdem passiert?
Diskussionen, Probleme und Herausforderungen mit Bezug auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis beispielsweise sind derart stark im öffentlichen Diskurs und sicher auch persönlichen Bewusstsein verankert, dass wir von einem globalen (Basis-)Narrativ sprechen können, das aus der gegenwärtigen Gesellschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft nicht mehr wegzudenken ist.
Und der Geschichtsunterricht? Die Curricula für unseren Geschichtsunterricht? Sie machen in den meisten Bundesländern um die obig formulierten historischen Dimensionen und Inhaltsfelder, auch die „Umweltgeschichte“, einen mehr oder weniger weiten Bogen, sehen wir einmal von wenigen Ausnahmen ab (bspw. das niedersächsische Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe mit einer möglichen Thematisierung der Umweltbewegung).
Welche Note sollten wir Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer uns, sollten sich Verfasserinnen und Verfasser der Curricula für Klafkis obig formulierte „Aufgabe“ ins Heft schreiben? Ein „ungenügend“ oder zumindest ein „mangelhaft“? Ein „ausreichend“? Aktiv daran beteiligt, dass das „Schlüsselproblem“ der Mensch-Umwelt-Beziehung in den Geschichtsunterricht integriert wird, waren die wenigsten von uns! Damit es aber nicht zu spät wird, sollten wir nun zumindest auf die „gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen […] reagieren“ – denn wir unterrichten die „Generation 21“, diejenige Generation, die heute mit nicht wenigen Akteurinnen und Akteuren u. a. freitags auf die Straßen geht und sich für eine lebenswertere Zukunft für alle und alle Lebewesen einsetzt.
Die Abschnitte dieses Blogbeitrags erläutere ich dir kurz im Video unten. Dass Bildung für nachhaltige Entwicklung und die Mensch-Umwelt-Beziehung auch in unseren Geschichtsunterricht integrierbar sind, veranschauliche ich dir danach mit einem Beispiel.
PS: Ich hatte vergessen, die durchschnittliche Zahl der Gegenstände in einem modernen Haushalt im Video zu nennen. Du findest die Angaben im folgenden Abschnitt!
Plastik im Geschichtsunterricht
Ein mittelalterlicher Haushalt beherbergte im Durchschnitt ca. 30 Gegenstände. Nicht nur, aber auch mit Plastik als neuem Werkstoff des 20. Jahrhunderts (vgl. McNeill und Engelke 2014: 136-140), der in unterschiedlichen Farben und Werkstoffkombinationen wohl in keinem modernen Haushalt fehlt, ist die Zahl der Gegenstände pro Haushalt auf ein Vielfaches angestiegen – im Jahre 2010 waren es im Durchschnitt ca. 10.000 (vgl. Mauch 2019: 15)!
Vom „Great Pacific Garbage Patch“, spektakulären Aufnahmen von Plastikmüll in den Mägen verendeter Albatrosse, Mikropartikeln im Wasser u. v. a. m. hast du sicher gehört. Unter anderem hinterlassen wir mit Plastikpartikeln einen derartigen „Fußabdruck“ auf der Erde, dass bereits eine Kontroverse darum entstanden ist, ob wir nicht ein neues Erdzeitalter, das „Anthropozän“, identifizieren und benennen sollten (vgl. Möllers et al. 2015 und Will 2021).
Wir könnten hier eine Vielzahl von Beispielen anführen, die die Bedeutsamkeit einer Thematisierung der Mensch-Umwelt-Beziehung verdeutlichen, konzentrieren uns aber einmal nur auf Plastik, um zu zeigen, was es mit unserem Geschichtsunterricht zu tun hat bzw. wie komplex es ist, wenn es darum geht, „zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation […] zu beurteilen und mitzugestalten“ (Klafki 1996: 50f.).
Thematische Interdependenzen zum Thema Plastik
Bezüglich unseres Beispiels Plastik können wir verschiedene „Interdependenzen zwischen den Zieldimensionen Politik, Wirtschaft, Kultur, Soziales und Umwelt“ (Döpcke 2021: 11) ausmachen und thematisieren, wie es Indre Döpcke, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Didaktik der Geschichte, für ein Umweltbewusstsein fordert, das gegenwärtige Bedingungen als Ergebnis eines langfristigen Prozesses versteht.

Folgende Leitfragen und Inhaltsfelder rücken dabei in den Fokus (sh. Abb. oben), die an dieser Stelle nur exemplarisch angerissen werden sollen:
Industrialisierung und Produktdesign
Wie ist Plastik entstanden? Welches Design (Kombination von Materialien) weisen Plastikprodukte auf? Was hat sie so attraktiv gemacht? Wie sind sie vor dem Maßstab der Kriterien nachhaltiger Entwicklung zu bewerten? Die Schülerinnen und Schüler setzen die Erfindung von Plastik in einen Zusammenhang zur Entstehung und Institutionalisierung der Wissenschaften, hier vor allem der Chemie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zudem erkennen sie, dass die Massenanfertigung von Plastikprodukten in enger Beziehung zur Industrialisierung mit ihren Arbeits- und Produktionsprozessen sowie der Entwicklung einer komplexen, modernen Marktwirtschaft und Konsumgesellschaft steht.
Globalisierung
Plastik und Globalisierung sind aus verschiedenen Gründen nicht voneinander zu trennen. Warum hat sich die Massenproduktion aus den ehemaligen Industrieländern in Teilen in andere Länder verlagert? Welche Auswirkungen hat dies auf regionale Arbeitsmärkte und globale Handelsketten gehabt? Gibt es eine historische Entwicklung bezüglich der Standards und Anforderungen an das Produktdesign (hier von Plastikprodukten), wenn es um Warenimporte geht? Ist die Verteilung von Plastikmüll auf der Welt gerecht? Inwiefern hatte die Globalisierung des Handels Auswirkungen auf die Verbreitung von Plastikprodukten? Die Schülerinnen und Schüler setzen vor allem wirtschaftliche und handelspolitische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sowie die Produktion, Verbreitung und Entsorgung von Plastikprodukten miteinander in Beziehung.
Wirtschaftsethik
Inwiefern spielen moralische Ansprüche eine Rolle in der Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft? Wer oder was hat ethische Impulse in der Wirtschaftsethik befördert, wer oder was sie behindert? Welche kritischen Stimmen gab es begleitend zur massenweisen Produktion von Plastikprodukten? Gab es überhaupt welche? Deine Schülerinnen und Schüler beurteilen, inwiefern moralische Impulse im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise und einer freien bzw. regulierten modernen Marktwirtschaft eine Rolle gespielt haben bzw. Handlungsoptionen für nachhaltige Entwicklung eröffnet haben.
Selbstverständnis des Menschen
Hiermit rücken Ideengeschichte, fächerverbindend auch Philosophie und Religion, in den Fokus unseres Interesses. Welche Narrative haben das Selbstverständnis von menschlichen Gesellschaften und Individuen geprägt? Wie wird der Mensch darin mit seiner (natürlichen) Umwelt in Beziehung gesetzt? Welche Machtstrukturen werden deutlich? Inwiefern sind diese Narrative zeit- und ortsabhängig? Welche Auswirkungen haben Narrative zum Selbstverständnis des Menschen auf die Massenanfertigung von Plastikprodukten gehabt? Unsere Schülerinnen und Schüler werden in die Lage versetzt, zeitliche und regionale Bedingungsfaktoren von Narrativen zur Mensch-Umwelt-Beziehung zu erkennen sowie sie in Beziehung zu wirtschaftlichen Handlungen zu setzen.
Geschichtsbilder
Oft untersuchen unsere Schülerinnen und Schüler Ereignisgeschichte feingliedrig im Mikroformat. Wann aber haben sie Gelegenheit, sich mit den „dicken Pinselstrichen“ der Geschichte auseinander zu setzen? Dabei geht es nicht um eine „Meistererzählung“, sondern darum, dass insbesondere die Geschichte der Mensch-Umwelt-Beziehung Entwicklungen von langer Dauer erkennbar werden lässt (vgl. Radau 2015: 71f.). Unsere Schülerinnen und Schüler interpretieren Geschichtsbilder (z. B. zyklische Modelle, Fortschrittserzählungen) in ihrer Beziehung zum Mensch-Umwelt-Verhältnis und in unserem Beispiel zu Mentalitäten mit ihren Bezügen auf Produktion, Erwerb und Konsum von Plastikprodukten. Denn die Verbindung zwischen der Erfindung und Produktion von Plastik sowie sozialem Fortschritt wurde als selbstverständlich angesehen (vgl. McNeill und Engelke 2014: 137).
[W]enn 10 Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen landen, dann ist ein Kunststoffchemiker einfach ein Idiot. […] Das ist eine Bankrotterklärung an Wissenschaft, die im Moment stattfindet im Umweltbereich.
Braungart 2015
Haltungen und Zukunftserwartungen
Schauen wir angesichts unserer Vergangenheitsdeutung aus gegenwärtiger Erfahrung heraus mit Hoffnung, erwartungsfroh und optimistisch oder ängstlich, verhalten und pessimistisch in die Zukunft? Welche vergangenen und gegenwärtigen Narrative befördern unsere Haltung? Bedienen wir Narrative der „Slow Violence“ (vgl. Nixon 2011) oder der „Slow Hope“ (vgl. Mauch 2019)? Singen wir ein Klagelied, betreiben wir „‚Katastrophendidaktik'“ (Reeken et al. 2015: 8) oder stimmen wir hoffnungsvolle Töne an? Entscheidend dabei wird die Inhaltsauswahl und Thematisierung nicht nur pessimistischer, sondern auch optimistischer und hoffnungsvoller vergangener Narrative sein. Mit Blick auf Plastik rücken zunächst vergangene Lobpreisungen des Fortschritts in den Blick, dann aber vor allem gegenwärtige optimistische Konzepte und Haltungen wie etwa diejenigen des Cradle-to-Cradle-Konzepts.
Produktalternativen
Eng mit dem Nachdenken über Geschichtsbilder bzw. zirkuläre Modelle verbunden ist die Frage nach Produktalternativen. Warum haben sich bestimmte, sowohl für den Menschen als auch für seine Umwelt schädliche Produkte durchgesetzt? Inwiefern gab es Alternativen? Welche Rolle hat die moderne Wissenschaft – mit Blick auf Plastik: die Chemie – gespielt? Eben schon erwähnt, kommen hier auch zukunftsweisende Konzepte, wie vor allem dasjenige der Cradle to Cradle NGO ins Spiel. Gab es aber seit der Industrialisierung überhaupt alternatives Produktdesign („Design“ hier mit Blick auf die Zusammensetzung der Werkstoffe gemeint)? Produktdesign, das nicht schädlich, nicht nachhaltig, sondern sogar positiv für unseren ökologischen Fußabdruck ist? Warum hat es sich lange Zeit nicht oder noch nicht durchgesetzt?
It became clear to all of us [on board the Ra] that mankind really was in the process of polluting his most vital wellspring, our planet’s indispensable filtration plant, the ocean.
Heyerdahl 1971, zit. nach McNeill und Engelke 2014: 138
Das Konzept Abfall

Im Längsschnitt erkennen unsere Schülerinnen und Schüler, dass beispielsweise die Problematik von Produktdesign und das jeweils vorherrschende Verständnis der Mensch-Umwelt-Beziehung exemplarisch sichtbar gemacht wird in den wachsenden Müllbergen der Menschheitsgeschichte (vgl. Köster 2024). Auch ästhetische und kulturgeschichtliche Konzepte können und müssen hier mit in unseren Geschichtsunterricht eingebracht werden. Denn wir sind in unseren modernen, westlichen Gesellschaften Meisterinnen und Meister darin geworden, den Abfall wegzusperren, im wörtlichen Sinne aus dem Blickfeld zu rücken und damit aus unserem alltäglichen Bewusstsein zu tilgen. Erst wenn die Müllabfuhr einmal streikt, wird uns deutlich vor Augen und Nase geführt, wie unsere Umwelt eigentlich ohne die mehr oder weniger strukturieren Müllberge aussehen würde.
Wie wurde vor der Industrialisierung mit Abfall umgegangen? Wie seit der Industrialisierung mit Abläufen in Flüsse und Meere, mit der Verschiffung von Plastikmüll in weniger „entwickelte“ Länder? Dir ist vielleicht der Norweger Thor Heyerdahl bekannt, der 1969-1970 mit seinen Papyrus-Schiffen Ra und Ra II den Atlantik überquerte. Weißt du aber auch, dass Heyerdahl bereits in seinem 1971 erschienenen Buch über die Reise vom zunehmenden Plastikmüll auf dem Meer schrieb (vgl. McNeill und Engelke 2014: 138)?
Wie gehen wir jetzt mit Abfall um? Welche zukunftsweisenden Konzepte gibt es? Am Fallbeispiel oder mit dem Längsschnitt „Geschichte des Müllbergs“ mit Blick auf verschiedene Epochen, sei es im und auf den Meeren oder in unmittelbarer Nachbarschaft menschlicher Siedlungen können unsere Schülerinnen und Schüler verschiedene Dimensionen historischen Denkens miteinander in Beziehung setzen (vgl. Köster 2024).
Freiheit und Herrschaft
Last, but not least: Vielleicht wunderst du dich darüber, dass ich dieses „Schlüsselproblem“ hier nenne? Dann vollziehe einmal den Paradigmenwechsel bzw. erweitere das Paradigma von Freiheit und Herrschaft auf die Mensch-Umwelt-Beziehung! Inwieweit drücken wir der Natur und unserer Umwelt mit dem menschlichen Herrschaftssystem über viele Ökosysteme den Stempel auf? War dies schon immer so? Wenn nicht, wann hat es sich im Laufe der Menschheitsgeschichte gewandelt?
Vieles spricht dafür, dass dies seit der Neolithischen Revolution und dann deutlich beschleunigt vor allem wieder seit der Industrialisierung – begünstigt durch die modernen Wissenschaften – der Fall ist.
Auch hier werden „Interdependenzen zwischen den Zieldimensionen“ (Döpcke 2021: 11) erkennbar. Denn wie wir Freiheit und Herrschaft verstehen, ist auch zeit- und ortsabhängig. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Unser Denken über Freiheit und Herrschaft mit Blick auf wirtschaftliches Handeln hat auch seine Auswirkungen auf die Vermehrung von Plastikmüll gehabt.
… Fallen dir noch weitere Interdependenzen oder Dimensionen auf? Dann teile sie mit uns in den Kommentaren unten!
Integration von BNE in Organisationsformen des Lernens
Wie können wir die Mensch-Umwelt-Beziehung, Umweltgeschichte oder Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sinnvoll und nachhaltig in unseren Geschichtsunterricht integrieren? Zumindest drei Modelle bieten sich dafür an:
- Fächertrennung: Bleiben wir bei einer weitgehenden Trennung domänenspezifischer Kompetenzen in unserem Fächerkanon, dann können wir die Mensch-Umwelt-Beziehung entweder an durch die Curricula vorgegebene Inhaltsfelder knüpfen. Umweltgeschichte wird somit jedoch nachrangig behandelt und nur dann berücksichtigt, wenn sie auch in vorgegebene Inhaltsfelder passen. Oder aber wir warten oder drängen auf curriculare Reformen, die Umweltgeschichte explizit und vermehrt mit in die Curricula aufnimmt. Ein erster Vorschlag in diesem Sinne wird im Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung gemacht (vgl. Erdmann et al. 2016: 248; vgl. auch Conrad und Döpcke 2021).
- Fächerverbindungen: Umweltgeschichte weist – wie viele andere historische Inhaltsfelder auch – eine hohe Komplexität auf. Sinnvoll erscheint daher eine Verbindung mit anderen Fächern. Für unser Beispiel Plastik drängen sich die Fächer Chemie, Geographie, Sozialwissenschaften, Politik und auch, wie oben angedeutet, Philosophie und Religion auf.
- Projektorientiertes Arbeiten: Ein höheres Maß an Freiheit bezüglich der Bestimmung des Themas und der Gestaltung des Lernprozesses bietet projektorientiertes Arbeiten bzw. Projektunterricht. Damit einher geht auch ein höheres Maß an Verantwortung, die wir an die Schülerinnen und Schüler für die Gestaltung ihres Lernprozesses abgeben. Schauen wir uns dieses Modell in einem kleinen Exkurs einmal ein wenig genauer an:
Nachhaltige (Schul-)Entwicklung mit Projektunterricht
Stell dir einmal vor, du kämest von einem fernen Planeten und solltest dich den obig erläuterten Herausforderungen und Interdependenzen stellen und ein schulisches Konzept für die Thematisierung der Mensch-Umwelt-Beziehung (am Beispiel von Plastik) entwickeln – ohne die gegenwärtig mehrheitlich praktizierten schulischen Organisationsformen kennen lernen zu müssen.

Du dürftest sogar alle schulischen Organisationsformen in den Schuppen stellen!
Würdest du wieder etwas davon herausholen?
Meine Vermutung ist, dass du nicht den gesamten Schulvormittag in 45-minütige Zeiteinheiten gliederst, dass du nicht Curricula für ca. zehn verschiedene Fächer mit verbindlichen Inhalten für ca. neun Jahrgangsstufen schreibst und anschließend versuchst, möglichst wieder viele Verbindungen zwischen den Fächern herauszuarbeiten, damit du der Aufgabe gerecht wirst, komplexe Phänomene bearbeitbar werden zu lassen.
Ich vermute, dass du den Schülerinnen und Schülern zumindest für einen Schultag der Woche oder einen Teil des Schulvormittags Raum und Zeit gibst, an einem Projekt zu arbeiten, in dem dann auch die historische Dimension des Inhaltsfeldes „Plastik“ mit Interdependenzen, Überlappungen und Beziehungen zu anderen Fachbereichen integriert ist.
Das Projekt FREI DAY sowie viele andere Projekte und schulische Organisationsformen lassen beispielsweise ein Lernen zu, das historische Dimensionen sinnvoll und lernwirksam mit anderen domänenspezifischen Bereichen verbindet.
Bildung für nachhaltige Entwicklung im Geschichtsunterricht – ein Plädoyer
Klimawandel, Rodung, Ölkatastrophen, Chiemeunfälle u. v. a. m. sind Phänomene „schleichender Gewalt“. Der US-amerikanische Professor in Humanities and the Environment Rob Nixon hat dafür den Begriff „Slow Violence“ geprägt (vgl. Nixon 2011).
Darauf Bezug nehmend und ergänzend betont der deutsche Historiker Christof Mauch das Konzept „Slow Hope“:
We need stories, not only of the ’slow violence‘ of environmental degradation, but also of what I call ’slow hope.‘ Rob Nixon has shown us that oil spills, toxic drifts, and climate change have created violence around the globe. He calls it ’slow violence‘ because it is invisible and develops slowly and gradually. […] But, I argue, we also need to identify stories, visions, and actions that work quietly towards a more hopeful future.
Mauch 2019: 20
Auf unser Thema hier bezogen, benötigen wir im Geschichtsunterricht – nicht nur, aber auch – Geschichten, die eine hoffnungsfrohe Haltung und Zukunftsaussicht ermöglichen – übrigens auch im Sinne der Verfasserinnen und Verfasser des Bandes Umweltgeschichte lehren und lernen. Keine Katastrophe! (vgl. von Reeken et al. 2015)!
Angesichts der – berechtigten – Klagelieder über den Zustand unserer Erde für uns und ihre Lebewesen fällt hier mein „Klagelied“ über unseren Geschichtsunterricht bezüglich der Thematisierung der Mensch-Umwelt-Beziehung und einer Integration des Konzepts „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ geradezu moderat aus.
Radikaler gesprochen könnten wir sagen: Die Thematisierung der Mensch-Umwelt-Beziehung in unserem Geschichtsunterricht ist eine Katastrophe! Zumindest dieser Thematik tun wir schleichend Gewalt an, indem wir sie in vielen Fällen kaum angemessen integrieren!
Erinnern wir uns an dieser Stelle noch einmal an Klafki, den ich als Auftakt für diesen Blogbeitrag zitiert hatte:
Der Bildungstheorie und der Bildungspraxis werden die Möglichkeit und die Aufgabe zugesprochen, auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen nicht nur zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation […] zu beurteilen und mitzugestalten.
Wolfgang Klafki 1996: 50f.
Statt mit einer schulischen „Slow Violence“ zu agieren und das Thema so gut wie unberücksichtigt zu lassen, sollten wir uns eher der „Slow Hope“ widmen – der Hoffnung, dass wir unserer pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgabe und Verantwortung gerecht werden können!
Auf unseren Geschichtsunterricht bezogen: Statt (nur) ein Klagelied aus pessimistischem Blickwinkel anzustimmen, gilt es Mut, Freude an Herausforderungen und Optimismus zu fördern!
Denn mit Pessimismus und Resignation schwinden unsere Handlungsoptionen sowie diejenigen unserer Schülerinnen und Schüler! Mit einem optimistischen und hoffnungsfrohen Blick weiten sie sich!
Übrigens gibt es bereits ein thematisches Beispiel dafür, dass das Wissen um Fortschritt (vgl. hierzu auch meinen Beitrag zu Statistiken auf Our World in Data oder meine Podcastfolge zu Statistiken im Geschichtsunterricht) helfen kann, optimistische Haltungen zu fördern. Du kennst es und hast es sicher schon mehrfach unterrichtet: die Thematik zur Lösung der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert.
Jura-Professor Jens Kersten vergleicht sie im Podcast Ökologie und Demokratie der Bundeszentrale für politische Bildung (ab Minute 31:29) mit der Frage nach einer Lösung für unsere Mensch-Umwelt-Problematik. Er plädiert bezüglich Letzterer für eine Integration der Natur als Rechtssubjekt in das Grundgesetz (vgl. auch Kersten 2022): Während sich heute viele vielleicht noch nicht vorstellen können, dass die Natur Rechtssubjekt werden könnte (in Ecuador ist sie es schon!), konnten sich im 19. Jahrhundert viele nicht vorstellen, dass die Soziale Frage in Deutschland einmal so gelöst sein würde, dass der Staat zum Wohlfahrtsstaat wird: mit Arbeitslosen-, Renten-, Krankenversicherung und weiteren sozialen Unterstützungsmechanismen.
Grund genug, das Thema zur Sozialen Frage in unserem Geschichtsunterricht auch damit enden zu lassen, dass die Bemühungen zu sozialer Wohlfahrt in Deutschland eine Erfolgsgeschichte waren! Damit unsere Schülerinnen und Schüler bspw. auch mit Bezug auf gegenwärtige Themen – hier mit Blick auf Ökologie – ihre zukunftsgewandten Haltungen mit Hoffnung nähren!
Machen wir unsere Schülerinnen und Schüler also hungrig auf Umweltgeschichte, indem wir sie nicht nur verstehen lassen, dass gegenwärtige Bedingungen Ergebnis langfristiger Prozesse sind, sondern fördern wir auf der Basis ihres Verständnisses von Interdependenzen und beispielsweise der Komplexität des Plastikproblems darüber hinaus ihren optimistischen und selbstbewussten Blick in die Zukunft, wie es der Chemiker Michael Braungart, einer der Vordenker des obig erwähnten C2C-Konzeptes, mit Blick auf die Chemie sagt:
[D]ie Leute reden von Recycling […]. [A]us einem Mobiltelefon werden von 41 Elementen genau 9 zurückgewonnen. Das nennt sich Recycling? Das ist eine Beleidigung wirklich normaler Wissenschaft […]. [W]enn 10 Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen landen, dann ist ein Kunststoffchemiker einfach ein Idiot. […] Das ist eine Bankrotterklärung an Wissenschaft, die im Moment stattfindet im Umweltbereich. Und darum ist es wichtig, die besten jungen Leute dazu zu kriegen, sich wirklich in diesem Bereich zu engagieren. […] Mein Ziel ist jetzt, junge Leute zu motivieren, genau eben über Qualität zu arbeiten […].
Braungart 2015
Und auf unser Fach Geschichte und uns bezogen: Wenn die Mensch-Umwelt-Beziehung so gut wie gar nicht angemessen und zeitgemäß in unserem Geschichtsunterricht vorkommt, sind wir Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer einfach Idioten? Ist dies eine „Bankrotterklärung“ an die Geschichtsdidaktik?
Ist es nicht wichtig, „sich wirklich in diesem Bereich zu engagieren“? Sollte es nicht unser Ziel sein, jetzt Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer zu motivieren, an dieser „Aufgabe“ mitzuarbeiten?
Was denkst du? Teile deine Auffassung und Haltung dazu gerne in den Kommentaren!

Autor: Utz Klöppelt
Hier schreibt dein Kollege – mit mehr als 15 Jahren Erfahrung in Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik, Gründer von Geschichte 21.
Ich helfe Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern dabei, ihren Geschichtsunterricht noch besser zu machen!
Auf meinem Blog Geschichte 21 und in meinem Flugblatt | Geschichte 21, dem Newsletter für die 5-Minuten-Tipps für dein Fach Geschichte, erhältst du mindestens zwei Mal pro Woche Anregungen und Hinweise für deinen Unterricht!
Mein geballtes Wissen und meine gesamte Expertise stelle ich dir in meinen beliebten Fortbildungen, Kursen, Workshops, einem plattform-internen Podcast und Webinaraufzeichnungen in meiner Akademie | Geschichte 21, dem Online-Portal für den Geschichtsunterricht, zur Verfügung! Du kannst die Themen deiner Wahl dort auf Abruf vertiefen!
Dort findest du auch Unterrichtsmaterial zum Download für deinen Geschichtsunterricht.
Abseits von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht findest du mich u. a. beim Sport (Rudern, Stand-up-Paddling und Basketball) sowie beim Lesen von vorwiegend amerikanischer Literatur!
Zum Weiterlesen und Weiterhören
- Plastikmüll: Die Geschichte von an Plastikmüll verendeten Albatrossen wird unter anderem von der plasticpollutioncoalition erzählt.
- Cradle to Cradle NGO: Du kennst sie noch nicht? Dann wird es Zeit! Die Cradle to Cradle NGO bietet tragfähige zukunftsweisende Konzepte zirkulären Wirtschaftens in der Bio- und Technosphäre. In vielen Produktbereichen gibt es bereits Pionierinnen und Pioniere des C2C-Konzeptes!
- Kunststoffe der Zukunft: Alternativen zum herkömmlichen Plastik bieten neue Kunststoffe – ganz im Sinne des Cradle-to-Cradle-Konzeptes. Google einfach einmal „cradle to cradle plastik“ und dir werden mit hoher Wahrscheinlichkeit gleich Ergebnisse zu Alternativen zu Plastik angezeigt. Einen Einstieg bietet auch der Artikel zu neuen Kunststoffen von der Cradle to Cradle NGO.
- Projektunterricht: Das Projekt Der FREI DAY. Lernen die Welt zu verändern regt die Arbeit mit von Schülerinnen und Schülern selbst gewählten Herausforderungen an.
- Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung: Hier werden Umweltgeschichte und Bildung für nachhaltige Entwicklung im Rahmen der Sustainable Development Goals, der 17 Ziele der United Nations für nachhaltige Entwicklung, behandelt. Du findest einen Link zum Download auf der Seite des Herausgebers Engagement Global.
- Geschichte für die „Generation 21“: In diesem Blogbeitrag (2017) umreiße ich mein Projekt Geschichte 21 mit Blick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
- Podcast Geschichte 21: Du kannst weite Teile dieses Beitrags auch in meiner Podcastfolge zum Thema BNE im Geschichtsunterricht anhören.
Literatur- und Podcastverweise
- Braungart, Michael (2015). FG019 Cradle to Cradle. Neue Produktionsmethoden und Ansätze für die Industrie für eine Welt ohne Müll, Forschergeist 19 von Tim Pritlove, URL: https://forschergeist.de/podcast/fg019-cradle-to-cradle/ (Zuletzt aufgerufen: 7.7.2021).
- Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.). APuZ #17: Ökologie und Demokratie, Podcast, 7.6.2023, URL: https://www.bpb.de/mediathek/audio/521744/apuz-17-oekologie-und-demokratie/ (Zuletzt aufgerufen: 24.7.2023).
- Conrad, Franziska (2021). „‚Nachhaltigkeit‘ als Thema des Geschichtsunterrichts. Ein Beitrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“, Geschichte lernen 201, 2-9.
- Döpcke, Indre (2021). „Der ‚Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung‘. Anregungen für BNE im Geschichtsunterricht?“, Geschichte lernen 201, 10-11.
- Engagement Global (2016; Hg.). Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, zusammengestellt und bearbeitet von Jörg-Robert Schneider und Hannes Siege, Bonn, URL: https://ges.engagement-global.de/orientierungsrahmen.html (Zuletzt aufgerufen: 8.7.2021).
- Erdmann, Elisabeth, Bärbel Kuhn, Susanne Popp und Regina Ultze (2016). „Geschichte“, in: Engagement Global (Hg.). Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, zusammengestellt und bearbeitet von Jörg-Robert Schneider und Hannes Siege, Bonn, 241-271.
- Kersten, Jens (2022). Das ökologische Grundgesetz, C. H. Beck: München.
- Klafki, Wolfgang (1996). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 5. Auflage (unverändert seit der 4., durchgesehenen Auflage; 1. Auflage: 1985), Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
- Köster, Roman (2024). Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, 2. Auflage (1. Auflage von 2023), München: C.H. Beck.
- Mauch, Christof (2019). „Slow Hope: Rethinking Ecologies of Crisis and Fear“, RCC Perspectives No. 1, 1-43, URL: https://www.jstor.org/stable/26588127?seq=1#metadata_info_tab_contents (Zuletzt aufgerufen: 8.7.2021).
- McNeill, J. R. und Peter Engelke (2014). The Great Acceleration. An Environmental History of the Anthropocene since 1945, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press.
- Möllers, Nina, Christian Schwägerl, Helmuth Trischler (Hg.; 2015). Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde, München: Deutsches Museum Verlag.
- Nixon, Rob (2011). Slow Violence and the Environmentalism of the Poor, Cambridge, MA: Harvard University Press.
- Radkau, Joachim (2015). „Für eine Grüne Revolution im Geschichtsunterricht – für eine Historisierend der Umwelterziehung: zehn Thesen“, in: Dietmar von Reeken, Indre Döpcke, Britta Wehen-Behrens (Hg.). Umweltgeschichte lehren und lernen. Keine Katastrophe!, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
- von Reeken, Dietmar, Indre Döpcke, Britta Wehen-Behrens (2015; Hg.). Umweltgeschichte lehren und lernen. Keine Katastrophe!, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
- Will, Fabienne (2021). Evidenz für das Anthropozän, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.
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